Es ist ein warmer und sonniger Junitag. Ich, Isabell, Redakteurin von deinNämberch, treffe mich mit meinem Kollegen Simon (Foto und Video) in der Innenstadt von Nürnberg. Wir haben uns mit Markus Kawaletz verabredet, einem Sozialarbeiter der SleepIn-Notschlafstelle für obdachlose Jugendliche. Er winkt uns aus dem Fenster zu, als wir das Gebäude betreten.
Durch unsere Recherchen zu Obdachlosigkeit haben wir uns bereits intensiv mit Obdachlosigkeit auseinandergesetzt. Uns wurden berührende Lebensgeschichten erzählt. Schlimme Schicksaale. Und nicht zuletzt die Hürden, die gemeistert werden müssen, um es aus der Obdachlosigkeit heraus zu schaffen.
Ein komplett neues Kapitel waren für mich obdachlose Jugendliche. Als wir durch die Räume des SleepIns geführt werden, wird mir mulmig zumute. Die Räume, in denen die Betten stehen, sind kahl. Schließlich geht es in dieser Einrichtung darum, den jugendlichen einen sicheren Ort für die Nacht zur Verfügung zu stellen. Wohnlichkeit ist Nebensache. Ich selbst komme aus einem behüteten Elternhaus. Habe immer Rückhalt und Liebe erfahren. Umso mehr hat mich berührt, was Markus Kawaletz uns erzählt.
Schwierige Lebensbedingungen
Als Sozialarbeiter in der Notschlafstelle kennt er die Geschichten der Jugendlichen. “Viele von ihnen kommen aus schwierigen Verhältnissen”, weiß er. Er erzählt uns, dass die meisten Jugendlichen schon im Kinder- oder gar Säuglingsalter missbraucht oder vernachlässigt wurden und Gewalt erfuhren.
Sie kamen in Kinderheime, sind dann aber in Drogen- und Alkoholprobleme abgerutscht. Angeeckt und wieder rausgeflogen. Und irgendwann haben sie sich nicht mehr in ein Leben im System eingefunden. Diese Tatsache zeigt einmal mehr, wie wichtig es als Kind ist, behütet aufzuwachsen. Es ist das Fundament, das diesen Jugendlichen von Beginn an fehlte.
Früher vs. Heute
Jugendliche auf der Straße sind keine neue Erscheinung. Schon immer gab es Gruppierungen, die ein Leben außerhalb des Systems gewählt haben. Markus Kawaletz erzählt uns von der Punker-Szene. Was ich bisher für ein Film-Klischee gehalten habe, war tatsächlich weit verbreitet. Eine Gruppe von jungen Punks, die Ratten als Haustiere hielten und sich freiwillig für ein Leben auf der Straße entschieden haben. Einfach frei zu sein und sich niemandem unterordnen zu müssen. Das waren deren Ideale.
Heute ist das anders. “Die Jugendlichen heute sind keiner Subkultur mehr zuzuordnen”, so Markus Kawaletz. Und auch nicht als klassische Obdachlose zu erkennen. Sie tragen normale Kleidung und sind relativ gepflegt. Sie möchten nicht als obdachlos wahrgenommen werden und haben ganz bürgerliche Wünsche – wie eine Familie, ein Haus oder ein Auto.
“Zwar sind Grundbedürfnisse wie Lebensmittel und Körperhygiene gut durch öffentliche Einrichtungen abgedeckt”, erzählt Markus Kawaletz. Viele andere Probleme sind für die Jugendlichen auf der Straße aber nach wie vor Realität: Nicht zu wissen, wo sie die nächste Nacht schlafen. Wo sie Drogen beschaffen können und nicht zuletzt, wo sie Geld herbekommen. “Oft findet dadurch eine versteckte Art der Prostitution statt”, so Markus Kawaletz. Ein Platz zum Schlafen gegen eine kleine Gefälligkeit. In ihrer Verzweiflung sind die Jugendlichen zu vielem bereit.
Die Frage nach dem “Warum”
Warum junge Menschen auf der Straße landen?
„Von der Gesetzeslage her müsste niemand obdachlos sein.“
Markus Kawaletz
Für Unter-18-Jährige bietet die Jugendhilfe in Deutschland akzeptable Hilfen an, so Kawaletz. Großer Handlungsbedarf besteht jedoch für die jungen Erwachsenen, die gerade die Volljährigkeit erreicht haben. Ab diesem Alter sind sowohl das Jobcenter als auch die Jugendhilfe für die jungen Erwachsenen zuständig. Einen Platz in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung bekommen die 18-Jährigen jedoch nur noch sehr selten. Maßnahmen in Heimen gelten als beendet, zudem fehlt es an Einrichtungen, die dieser Altersgruppe einen niederschwelligen Zugang ermöglichen. Der Bruch ist für die jungen Erwachsenen zu groß. Sie rutschen ab.
Das SleepIn
Das SleepIn ist eine Einrichtung für jugendliche Obdachlose zwischen 14 und 21 Jahren und wird in gemeinsamer Trägerschaft vom Schlupfwinkel e.V. und dem Jugendamt Nürnberg betrieben. Als eine niederschwellige Einrichtung bietet das SleepIn den Jugendlichen eine Übernachtungsmöglichkeit, ohne vorher irgendwelche Hürden überwinden zu müssen. Sie müssen sich nicht erklären. Dürfen ihre Haustiere mitnehmen. Auch mal zugedröhnt ankommen. “Bei uns herrscht in den Räumlichkeiten aber natürlich striktes Alkohol- und Drogenverbot”, so Kawaletz.
Ansonsten werden die Jugendlichen in der Einrichtung in Ruhe gelassen. Sie dürfen sich Lebensmittel nehmen und kochen, duschen und Wäsche waschen. Einfach, wenn auch nur für eine kleine Weile, der Straße entfliehen. “Wir bohren nicht nach”, sagt Markus Kawaletz. Wer sich seine Probleme aber trotzdem mal von der Seele reden möchte, ist bei den Sozialarbeitern des SleepIns immer herzlich willkommen. Sie helfen. Wo sie können.
Sechs Nächte stehen den Jugendlichen unverbindlich im Monat zur Verfügung. Weitere Nächte sind dann aber an die Bereitschaft geknüpft, sich helfen zu lassen. Die Sozialarbeiter unterstützen sie dabei, diverse Anträge zu stellen, kontaktieren den Sozialdienst und helfen Suchtmittelabhängigen bei entsprechenden Therapiemaßnahmen.
Dabei ist es Markus Kawaletz besonders wichtig, den Jugendlichen ein gutes Gefühl zu geben. “Wir wollen die Jugendlichen prinzipiell nicht verändern, sondern ihnen das Gefühl geben, dass sie ok so sind, wie sie sind”. Er ist dabei immer wieder fasziniert, was die Jugendlichen für Ressourcen aufbringen können, um aus ihrer Situation herauszufinden. “Es ohne Background und ohne Familie weg von der Straße zu schaffen. Einen Schulabschluss nachholen, eine Lehre anzufangen. Das ist beeindruckend.”
Ein Zukunftswunsch
Für die Zukunft wünscht sich Markus Kawaletz eine größere Lobby und mehr Medienpräsenz für jugendliche Obdachlose. Damit sie dort aufgefangen werden, wo das Problem entsteht. Und es am besten erst garnicht soweit kommen zu lassen. “Jugendhilfe müsste dafür deutlich flexibler und kreativer gestaltet werden”, so Markus Kawaletz. “Außerdem sollte es mehr niederschwellige therapeutische Maßnahmen geben”.
Denn die Jugendlichen haben viel erlebt. Sind gezeichnet, körperlich und vor allem psychisch. Sind traumatisiert. Therapeutische Hilfen sind derzeit zu hochschwellig und häufig geknüpft an einen komplizierten Anmeldeprozess und an Verbindlichkeiten. “Das können viele Jugendliche in ihrem Zustand einfach noch nicht leisten”, so Markus Kawaletz.
Zuletzt bittet Kawaletz, jugendliche Obdachlose nicht zu verurteilen. Jeder sollte sich einmal in die Lage zu versetzen, in einem wenig behüteten Elternhaus aufzuwachsen. Keinen Rückhalt zu haben. Keine Unterstützung. Niemand, der einem zuhört. Es ist unfassbar, in so jungen Jahren auf der Straße zu landen und auf sich allein gestellt zu sein. Etwas, das eigentlich gar nicht passieren darf.